Innovatoren leben länger – Kolumne Digital Woodpecker Teletalk 9/19

Warum Selbsthilfegruppen für digitale Transformation den Therapeuten ersetzen

“How did you go bankrupt? Two ways: gradually and then suddenly”. Das bekannte Zitat von Ernest Hemmingway aus dem Buch „The Sun Also Rises“ passt auf die Druckwelle der digitalen Transformation. Technologie bewegt sich scheinbar immer auf diesem Pfad. Am Anfang langsam und dann geht es plötzlich schnell, wenn beispielsweise die breite Masse auf Smartphones umstellt und Nokia aus dem Markt fegt. Zukunftspessimisten jammern, Deutschland verschlafe mal wieder die Welle. Viele Mittelständler fragen sich jedoch längst, was das für ihre Branche bedeuten kann. Die typische Reaktion: Technologisch aufrüsten.

Von verschlafen kann also nicht die Rede sein, denn auch Mittelständler sind längst übers Faxgerät hinausgewachsen, doch aufrüsten in der Technologie allein genügt nicht. Wie viel Bereitschaft erleben Sie in Ihren Unternehmen, die Prozesse in der Tiefe anzufassen und das Organisationsmodell ernsthaft in Frage zu stellen? Hierarchien ändern funktioniert selten auf Knopfdruck oder durch eine verzwungene Du-Statt-Sie-Ansage. Wer die Welle einseitig reitet, wird trotz aller Bemühungen von der digitalen Transformation hart getroffen. Oft sind es in meiner Beobachtung Unternehmen, die nur den technischen Teil der Veränderung angehen. Flache Hierarchien, agile Teams, neue Businessmodelle: Das reicht für die Zukunft nicht aus. Unternehmenskultur und Mitarbeiterführung sind gefordert. Klingt nach Schmerzen und Stuhlkreisen? Viel besser, Unternehmen existieren idealerweise in einem Mix aus Sinn-Beitrag (Purpose), Mission, Kultur und Führung.

Zwei Fragen zum Selbst-Test:

1)Ein Unternehmen, dessen Mitarbeiter keine motivierte Antwort auf die Frage finden, warum sie für den Job morgens aufstehen sollte sich die Frage stellen, wie es künftig mit Geld allein in einem Kampf um Talente motivieren kann.

2)Firmen, deren Teams nicht wissen, was sie für wen machen und mit welchem Ergebnis, navigieren mit Fließbandarbeitern und Führungskräften ohne echte Leidenschaft für die Wertschöpfung am Kunden.

Sinn, Mission und Kultur braucht vor allem leidenschaftliche Innovation: Ein Schlüsselbegriff, denn Innovation wird morgen und übermorgen nicht mehr eine Abteilungsbezeichnung für folienbastelnde Strategie-Junioren im Vorstandsstab sein, sondern Lebensgrundlage für Unternehmen. Geschäftsmodelle, die vor 20 Jahren ihren Product-Marcet-Fit erreicht hatten und seitdem den Status Quo schützen, werden schneller vor die Wand fahren, ohne Kunden, die noch bereit wären, für eine Haltung von  Bestandssicherung Geld zu bezahlen. „Die will das Kind mit dem Bade ausschütten!“, könnten Sie jetzt kopfschüttelnd murmeln. Nein, den Kern gilt es zu schützen ohne zugleich ein Zersetzen, Neuerfinden zu vernachlässigen. Wie sich das lösen lässt? Kulturell durch einen guten Mix im Team aus Bewahrern und Innovatoren.

Diese Balance als Bewahren und Verändern wird uns auch in der Unternehmenskultur helfen, einen entspannt neugierigen Umgang zu finden mit neuen Normen. Egal ob wir neue Technologie-Devices sozial vereinnahmen und Regeln entwickeln, wie mit Tablets in Meetings umzugehen ist oder unsere Arbeitsphasen anders strukturieren als in Zeiten von Kernzeit und Stechuhren. Für meine jüngsten Mitarbeiter ist es normal, um 15 Uhr mit einem Freund zum Kaffee raus zu gehen und abends nach dem Sport wieder zu arbeiten. Für andere ist das erschreckend, auch weil sich Lernen verändert und die Halbwertszeit von Wissen kürzer wird. Es ist nicht nur die Kultur, die Führung, „die da oben“. Es betrifft uns in der Tiefe: Wollen wir uns alle 5 Jahre neu erfinden als Menschen?Wie leicht ist es früher gewesen, mich über meine Führungsrolle bei einem bekannten Unternehmen zu definieren. Alle Indikatoren deuten darauf hin, dass diese Identifikations- und Statussymbole verschwinden: Die ganze Tech-Branche bewegt sich schon auf Karrieren in 3-5 Jahres-Abschnitten zu.

Was hilft auf dem Weg der De- und Rekonstruktion von Unternehmen und Karrieren? Neugier! Bücher lesen, Youtube-Videos anschauen und Austausch suchen mit anderen Mittelständlern und Managern. Wenn ich Konferenzen und Executive Roundtables moderiere, erlebe ich oft, wie viel Manager mitnehmen können im Austausch mit anderen, die durch die gleiche Transformation gehen. Wer Innovatoren findet aus anderen Branchen, kann ohne Angst um Ideenklau und Gesichtsverlust Erfahrungen und Fehltritte austauschen.

Hemmingway würde dazu sagen „die kürzeste Antwort auf etwas ist es einfach zu tun.“

Verena Fink, Gründerin von Woodpecker Finch ist Expertin für kundenzentrierte Innovation und künstliche Intelligenz. In ihrer Kolumne teilt sie Impulse aus dem Silicon Valley und ihre langjährigen Erfahrungen aus dem digitalen Wandel von Unternehmen.