Künstliche Intelligenz stellt das Anbieter-Marketing auf den Kopf. Wie, zeigt der chinesische Dienst WeChat, der längst weit mehr als ein Messenger ist.
Im Sprachgebrauch der Vermarkter kommt kaum noch ein technisches Device auf den Markt, das nicht mit den Superkräften von Künstlicher Intelligenz (KI) aufgerüstet wurde. KI-Anwendungen schießen inzwischen wie Pilze aus dem Boden. Doch viele davon sind bei genauem Hinsehen regelbasierte Mechanismen und weit entfernt von unseren Erwartungen an selbstlernende Systeme. Wirklich beeindruckend finde ich dieser Tage neue KI-Ökosysteme, welche die Online-Ökonomie neu definieren. Im Mittelpunkt steht der digitale Assistent als engster Vertrauter des Konsumenten und damit mächtigster Gatekeeper für alle Anbieter. Kein Wunder, dass Amazon, Google sowie Microsoft fieberhaft an der Weiterentwicklung ihrer virtuellen Assistenten arbeiten. Denn sie verdienen stets mit, wenn wir über Amazons Alexa, den Google Assistant oder über Microsofts Cortana unser Leben organisieren.
Mittelfristig werden digitale Assistenten voll Künstlicher Intelligenz einen Großteil der Webseiten und Apps ersetzen, da Nutzer nicht mehr zwischen Anwendungen und Plattformen wechseln wollen. Bestes Beispiel dafür ist WeChat, ein mobiler und plattformübergreifender Messaging-Dienst aus China. Für mehr als eine Milliarde Menschen weltweit ist WeChat das zentrale Hilfsmittel, um den Alltag zu planen. Das Ökosystem ist offen für andere Anbieter; aktuell sind schon mehr als zehn Millionen Unternehmen mit ihren Anwendungen auf der Plattform integriert. Die Nutzer von WeChat sind der Traum eines jeden Softwareentwicklers. Durch die Fülle an Interaktionen füttern sie das künstlich neuronale Netz mit Datenmassen. Sie chatten mit Freunden, bestellen Essen, buchen Flüge, entsperren E-Bikes, organisieren sich einen Babysitter, kaufen Kinokarten, vereinbaren Friseurtermine, konsultieren Ärzte oder zahlen die Stromrechnung. Der integrierte Bezahldienst ist besonders beliebt, denn er funktioniert sogar in der Garküche am Straßenrand – mit einem simplen Scan von Barcodes. Komfort siegt! Es gibt für die Nutzer keinen Grund, das System WeChat zu verlassen, denn darin sind alle Anwendungen integriert – ohne Login, Download oder Installation.
In China lässt sich beobachten wie Hersteller und Händler ihre Online-Marketing-Ansätze komplett neu ausrichten. Nike etwa bietet Fans und Kunden auf WeChat kostenlose Zusatzangebote durch Fitness- und Wellness-Tipps, Lauftrainings oder Diätpläne. Zugegeben, Nutzer durch Mehrwerte binden ist eine Erfolgsformel, die nicht erst gilt, seit Künstliche Intelligenz den jüngsten Hype erlebt. Wem es jedoch in diesem Ökosystem gelingt, Zugriff auf die Daten und Analysen der KI zu bekommen, die ein 360-Grad-Bild des Nutzers in Echtzeit zeichnen, der überflügelt jede Mehrwert-Maschine. Mehrwert, von einer Intelligenz identifiziert, die mich besser kennt als mein Partner, Freund oder Psychologe, hat die besten Chancen, mein Konsumtenherz zu gewinnen.